Hallo,
jetzt möchte ich gerne auch meine Geschichte vom 9. November 1989 erzählen, denn die Erlebnisse werde ich auch niemals vergessen:
Dabei ging der Tag so los wie alle Tage damals: Geboren in Hessen bei Wiesbaden besuchte ich an diesem, der Erinnerung nach, leicht nieselig-regnerischen Morgen die 11. Klasse eines Wiesbadener Gymnasiums. Am Morgen stand eine Klausur zum Thema "Gesellschaftskunde" beim beliebten Lehrer "Stracki" (Herrn Strack, den ich vor ein paar Jahren gesund und munter wieder auf einem Klassentreffen sah) an. Ich kann mich sogar noch an das Thema erinnern, denn das sollte im Laufe des Tages von der Aktualität gänzlich über den Haufen geworfen werden. Die Fragestellung war, wie sich die staatliche Entwicklung von DDR und BR Deutschland wohl angesichts der bereits wochenlangen Ereignisse (Übersiedler, Botschaftsflüchtlinge in Prag und Warschau, Demonstrationen und mutige Proteste im Zusammenhang mit dem 40. Jahrestag) in den nächsten Jahren entwickeln würde. Ich war insoweit etwas vorsichtig, als dass ich eine zwar wesentlich stärkere staatliche Öffnung der beiden deutschen Staaten als bisher geschehen in meiner Antwort andeutete, aber natürlich konnten wir alle nicht vorhersagen, wie sich die Ereignisse bis zum 3. Oktober 1990 entwickeln würden. Insoweit hatte das im Nachhinein betrachtet, natürlich auch keine Auswirkungen auf die Benotung, denn "Hellseherei" gehört bekanntlich nicht zum gymnasialen Bildungskanon, der regelmäßig in der Oberstufe vermittelt wird.
Zum Hintergrund: Ich bin zwar in Hessen geboren, aber aufgrund meiner Eltern, "kein waschechter Hesse". Meine Mutter stammt aus Königsberg/Ostpreußen und musste als Vierjährige vor der heranrückenden Roten Armee fliehen. Mein Vater stammt aus Frankfurt an der Oder und erlebte das Kriegsende im britschen Sektor von Berlin. Die Eltern hatten beide Beziehungen zum anderen Teil Deutschlands (Verwandtschaft der Mutter und deren Aufenthalt in einem Flüchtlingslager bei Priestewitz/Dresden 1945 und im Fall meines Vaters familiäre Bindungen nach Riesa und Hartha/Thüringen). Insoweit ist mein Geburtsort in der Tat vollkommen zufällig, denn er hätte genausogut auch im Osten sein können. Mein Vater lebte zwischen 1945 und 1949 kurze Zeit in Riesa bei Verwandten, bis er 1949 endgültig nach West-Berlin kam. 1953 erlebte er an der Sektorengrenze am Potsdamer Platz den Volksaufstand des 17. Juni mutiger Ostdeutscher gegen das SED-Regime aus Westen live mit. Meine Mutter kam mit ihren Angehörigen von Sachsen recht schnell nach Mainfranken, denn ihr Vater, ein Luftwaffenoffizier, wurde nach Würzburg aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Von Karlstadt/Würzburg aus folgten Umzüge ins Rheinland (Mönchengladbach) und an den Bodensee (Lindau) in den 1950er Jahren, nach dem Abitur studierte sie Pädagogik in Worms und lernte meinen Vater schließlich 1960 in Sizilien (!) beim gemeinsamen Urlaub kennen, als sie ihre erste Stelle als Lehrerin im rheinlandpfälzischen Nieder-Olm antrat. Mein Vater beendete die Schule in West-Berlin und kam dann (mit dem Mofa, wie er erzählte!) über die 1959 offenbar noch sehr leere Transitautobahn nach Hessen, um sich dort bei der Polizei zu bewerben. Er beendete 1997 als Brandursachenexperte beim Hessischen Landeskriminalamt seinen Polizeidienst.
Nun also weiter zum bewussten Tag: Die Klausur war geschrieben, der übrige Vormittag vergangen, nach der Busfahrt in einen Wiesbadener Vorort standen nach dem Mittagessen die Hausaufgaben an. Also eigentlich alles wie immer, oder? Nun, ja - nicht ganz: Etwa so ab 17:50 Uhr rief Lütti, ein langjähriger Schulkumpel meines Vaters aus Berlin an. Er arbeitete damals beim Berliner Studio des ZDF als Leiter der MAZ, also der Magnetaufzeichnung einer jeden Sendung. Übrigens wurde er regelmäßig im Abspann der Hitparade von Viktor Worms immer namentlich aufgeführt. Ansonsten wirkte er in der sog. freiwilligen Polizeireserve in West-Berlin mit. Das war eine Institution des Berliner Senats, eingerichtet im Ergebnis der Berlin-Blockade 1948 - 1949, um im Westteil der geteilten Stadt Ordnung und Sicherheit zu jeder Zeit aufrechterhalten zu können. Lütti sagte am Telefon: "Also irgendwas ist los hier, wir wissen auch nichts, macht aber mal das Fernsehen an, denn wir haben einen Einsatzbefehl zur Absicherung der Westseite des Grenzübergangs Sonnenallee erhalten". Diesen Rat sind wir gefolgt und haben die Pressekonferenz mit Schabowski gesehen. Wir waren wie vor den Kopf geschlagen. Ich kann mich erinnern, dass der Fernseher mindestens bis Mitternacht lief und ich am nächsten Morgen, wie alle Klassenkameraden, recht unausgeschlafen war.
Wir waren dann Anfang Januar 1990 in Eisenach zu Besuch. Es war toll.
Übrigens hatte ich im März 1989 selbst erleben können, wie sich in Berlin die Situation gestaltete, denn meine Eltern besuchten Angehörige und wir fuhren damals im BEX-Reisebus zu einem Tagesausflug über Drewitz zum Schloss Sanssoucci nach Postdam. Ich erinnere mich noch an Passkontrolleure mit krachenden Stempeln und bauchladenartigen Aktenkoffern, Hundeführer und Kontrolleure mit Spiegeln, die den Bus von unten überprüften sowie Jugendliche auf dem Busparkplatz, die "schwarz" Geld tauschen wollten. Eine eifrige Stadtbilderklärerin führte uns dann nach Potsdam in ein sehr schönes HO-Restaurant. Dort erhielten wir zwar ein gutes Essen, aber es war sehr bedrückend zu sehen, dass an den großen Glaseingangstüren, welche verschlossen waren, die DDR-Bürger mit ihren Stoffeinkaufsbeuteln standen und hineinwollten. Es war einfach extrem unwürdig. Dann ist mir noch der widerliche "Tränenpalast" in Erinnerung mit den gelben Kacheln nach der Art (und wahrscheinlich auch dem Geruch) einer öffentlichen Bedürfnisanstalt. Ich weiß auch noch, dass wir den Fernsehturm am Alexanderplatz besuchten und mit der rot-weiß lackierten S-Bahn fuhren. An Schaufenstereinrichtungen mit wenig Waren, aber dafür viel mehr Fahnen und Transparenten in Vorbereitung des 40. Jahrestages habe ich auch noch Erinnerungen.
Noch etwas zur Schule: Wir hatten einen sehr guten Deutsch-Tutor, der auch eine gesamtdeutsche Geschichte zu erzählen hatte: 1945 als junger Mann nach kurzzeitigem Wehrdienst sollte er im Herbst als einer der ersten Neulehrer in der damaligen SBZ (sowjetisch besetzte Zone Deutschlands; Vorläuferbezeichnung der späteren DDR) an einem Kurs teilnehmen, um dann ab 1946 in einer Leipziger Schule die Politik der SED den dortigen jungen Menschen nahezubringen. Zunehmend geriet er jedoch in Widerspruch zu diesem Bildungsziel und schloss sich einer Gruppe revoltierender Oberschüler an. Das bekam ihm gar nicht gut, denn er "fuhr dafür ein" und kam bis 1954 nach Bautzen ins dortige Gefängnis. Dort erlebte er alles mit (sog. "Bautzener Hungergeschrei" der Häftlinge 1950 u. a.). Nach seiner Entlassung floh er spektakulär mit Lederbändern unter einem Interzonenzug (!) angebunden in den Westen. Dort allerdings holte ihn diese Vergangenheitshypothek ständig wieder ein. Er musste erneut ein vollständiges Pädagogikstudium absolvieren, promovierte sogar, konnte aber, anders als seine westlichen Kollegen, niemals verbeamtet werden, weil man ihm seine ostdeutsche Neulehrerausbildung im Westen nicht anerkannte. Insoweit konnten wir ihn während der ereignisreichen Herbstmonate des Jahres 1989 zu Beginn bald jeder seiner Unterrichtsstunden in Form einer Art "Deutschlandschau" mit ganz persönlichen Kommentaren erleben: Bis zum 9. November war er extrem kritisch gewesen, denn er sprach von "rotem Gesindel und Gelumbe", wir besprachen bei ihm den 17. Juni 1953 (anhand einer Schallplatte mit Originalaufnahmen der damaligen Ereignisse) usw. Nach diesem Datum änderte sich seine Haltung, denn er war der Ansicht, dass das "in der Zone" (nie sagte er DDR) auf keinen Fall so weiterginge und es zur deutschen Einheit kommen werde. Seine Marotte war übrigens der Pluralis majestatix, d. h. die dritte Person, mit welcher er uns anredete, z. B. "Schulzen, zwinge Er mir kein Gespräch auf!" (gerichtet an einen Mitschüler namens Schulz).
Ich selbst lebe seit 1995 im östlichen Sachsen. Dort hat es mich beruflich nach meinem Studium der Verwaltungswissenschaften hin verschlagen. Schon immer habe ich gesagt, sicherlich aufgrund unserer familiären Bindungen, dass ich gerne helfen möchte, damit Deutschland wieder eins wird und die Entwicklung des östlichen Landesteils mit eigenen Kräften unterstützend voranbringen will. Diesen Willen konnte ich bis heute umsetzen. Ich lebe gerne hier und ich muss sagen, dass ich die Entwicklung und den Aufbau vieler Dinge nicht nur miterleben, sondern auch aktiv mitgestalten durfte, so wie es im Westen weder nötig noch möglich gewesen wäre. In diesem Zusammenhang habe ich einen Wahlspruch: "Charakter ist keine Frage der Himmelsrichtung oder des Geburtsortes".
Ich bin Erasmus-Hochschulkoordinator an einer sächsischen Hochschule bei Görlitz. Diese Hochschule wurde 2019 als eine von zwei ostdeutschen Hochschulen bundesweit aus 382 Hochschulen, gemeinsam mit acht weiteren Hochschulbildungseinrichtungen, meist aus dem Süden Deutschlands, für ihre hervorragende Internationalisierung vom Deutschen Akademischen Austauschdienst als nationale deutsche Erasmus-Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit geehrt. Ich erlebe täglich bei meiner Arbeit, wie wichtig es ist, jungen Menschen Horizonte zu eröffnen. Im aktuellen Fall sind diese europa- und weltweit ausgerichtet. In meiner eigenen Geschichte öffnete sich am 9. November 2019 für mich der Horizont nach Osten in weiter, damals nie für mich vorstellbarer Art und Weise. Das vergesse ich nicht, denn ohne den 9. November 1989 wäre ich nicht nach Sachsen gekommen.