30 Jahre Mauerfall


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  • 30 Jahre Mauerfall, Zeit oder wieder mal Zeit zurückzublicken, sich zu erinnern. Wer hat von euch welche Erinnerungen an diesen Tag und die Tage danach. Wer hat es wie miterlebt, was ist geblieben, woran erinnert man sich?
    Zum Zeitpunkt des Mauerfalls war ich 18 Jahre alt, hatte an dem Tag zunächst Normaldienst und habe abends dann im Fernsehen die berühmte Pressekonferenz gesehen. Am nächsten Tag, einem Freitag, hatte ich dann Spätschicht, aber das Thema des Tages war natürlich das, was sich zuvor spät abends ereignete, und was ja nicht mehr aufzuhalten war. Ob ich die eigentliche Öffnung der zahlreichen Grenzübergänge dann abends noch verfolgt hatte, weiß ich nicht mehr, denn bei uns war nur das dritte Programm aus Niedersachsen zu empfangen, nicht aber der SFB, aber an dem Freitag bekam ich zum Dienstbeginn in der Lokdienstleitung Magdeburg schon mit, was da des nachts noch passierte, und dass man für den nächsten Morgen den Städteexpress als Sonderzug nach Berlin Lichtenberg fahren lassen wollte, auch wer bereits dafür zum Dienst eingeteilt war. Somit stand für mich fest, was ich am nächsten Tag, dem Beginn eines freien Wochenendes, machte. Abends erzählte ich das meinen Eltern, die sich gerne anschließen durften, aber nur meine Mutter wollte dann (wohl auch nur mir zu Liebe). Wie sich das Verkehren des Sonderzuges, welcher ja eigentlich nur von Montag bis Freitag als „Apfelsinenexpress oder Bonzenschleuder“ zwischen den Bezirksstädten und Berlin Lichtenberg fuhr, ohne damaliges Internet, WhatsApp oder Zeitung (war ja nicht mehr zeitnah zu lesen) rumgesprochen hatte, keine Ahnung, jedenfalls der Bahnsteig war schwarz vor Menschen. Nun, als Reichsbahner habe ich meine Mutter auf dem Bahnsteig postiert, mich in die Abstellgruppe geschlichen, den Kontakt zur Zugbegleiterin gesucht und mit einer erfundenen Geschichte „Ach ich dachte xxx soll den Sonderzug begleiten“ den Smalltalk aufgebaut. Die junge, nette Zugführerin reagierte ebenso spontan „ja, aber der konnte wohl dann doch nicht, da haben sie mich gefragt…“. Das Eis war zumindest gebrochen, und schnell hatte ich auch den Segen, mich samt Mutter in die 1. Klasse zu setzen, eine Fahrkartenkontrolle wäre eh nicht möglich gewesen. Der Zug wurde dann mit mir bereits im Inneren an den Bahnsteig 2 des Magdeburger Hbf rangiert, und ich musste natürlich aus dem Fenster gucken, um meiner Mutter, die ja noch nicht wusste, ob mein Versuch funktioniert hatte, zu zeigen, wo wir nun saßen. Die empörten Rufe auf dem Bahnsteig ob meines Anblickes, habe ich vernommen, aber großzügig ignoriert. Der Zug setzte sich pünktlich und mit 200% Belegung in Bewegung, und irgendwann standen wir vor dem Grenzübergang Invalidenstraße. Entgegen der Erwartungen war es relativ leer, und ohne warten zu müssen, ging es erstmals für mich in den Westteil. Im Gegenteil zu meiner Mutter, welche die Teilung ja auch miterleben musste, nahm ich das Ganze relativ normal und gefasst auf. Es standen dort bereits Wagen mit Marktschreiern großer Ketten, welche Kaffee und Mandarinen verteilten, aber auch Bananen in die Menge warfen. Es wirkte wie im Zoo und schlimm, wie Menschen ihre Hände zur „Fütterung“ hoben und bettelten.
    Da wir Bekannte im Westteil hatten, suchten wir ein Telefon, damals gab es noch Telefonzellen mit Telefonbuch, und meldeten den erfolgreichen Grenzübertritt. Ob sie wirklich damit gerechnet hatten, dass wir so schnell nach Grenzöffnung bei Ihnen aufkreuzen würden? Ich hatte das Gefühl, eher nicht. Dennoch war es ein herzliches Wiedersehen, diesmal endlich mal auf der anderen Seite des Zaunes. Nach einem ersten Glas Sekt, ging es von der Konradshöhe in Tegel erstmal zurück in den Stadtteil Tegel, um das Begrüßungsgeld abzuholen. Dabei mussten uns unsere Bekannten förmlich dazu nötigen, denn darauf kam es uns wirklich nicht an, ob man das nun glaubt oder nicht.
    Die Bank war dort jedenfalls angnehm leer, und als Begrüßungsgeschenk durften wir uns im Nachgang jeder noch ein Geschenk unserer Bekannten bei Karstadt aussuchen. Was nehmen, wenn man quasi wie ein Kind mit großen, leuchtenden Augen vor dem Schaufenster einer scheinbar unendlichen Konsumwelt steht?! Viel überlegen konnte man auch nicht, wäre viel zu viel gewesen, was man eigentlich hätte gebrauchen können. Als Eisenbahner lag da aber genau das richtige vor mir, und so war es förmlich das Erste, was mir in die Hand fiel und passte, ein Eisenbahnatlas der Bundesbahn. Heute sieht man auch ihm die 30 Jahre an, aber ich würde ihn nie weggeben.
    Doch was wäre ein erster Grenzübertritt ohne das Markenzeichen der westlichen Welt, ein Stück totes Fleisch mit Salat und Soße zwischen 2 Sesambrötchenhälften. So mussten wir also auch diese Bewährungsprobe in Form eines Doppel Whoppers bei Burger King in Berlin Tegel bestehen und genossen es auch.
    Abends ging es dann mit der BVG in die Innenstadt zum Ku´damm, und auch wenn wir quasi 2 Tage zu spät waren, es herrschte auch an diesem Samstagabend immer noch Ausnahmezustand. Menschen über Menschen auf den Straßen und einfach Wahnsinn, diese Eindrücke, dieses Lebensgefühl ….. Es wurde eine lange Nacht, bevor es zurück nach Tegel ging. Wirklich schlafen konnte man eh noch nicht, so gab es als Zugabe auch noch ein Stück Fernseh „Highlight“ auf einem der damaligen privaten Sender in Westberlin „Unterm Dirndl wird gejodelt“, doch dann kam der Schlaf ganz schnell.
    Sonntagabend verließen wir Berlin dann wieder, schließlich musste ich Montag wieder zum Dienst, was für mich außer Frage stand!
    Ich war in den kommenden Wochen noch öfters bei unserer Bekannten und habe auch die Eröffnung neuer Grenzübergänge, so zwischen Frohnau und Hohen Neuendorf, miterlebt, aber so schön wie an diesem, ersten Wochenende im "Westen" habe ich es nie wieder empfunden.
    Heute nun habe ich länger in der BRD gelebt, als wie in der DDR, sehe im Fernsehen die Bilder und auch die heutige Generation, die nur noch aus dem Schulunterricht glaubt zu wissen, wie es damals war, im Wendeherbst ´89 und davor in einem Land, welches es nicht mehr gibt. Viel zu oft kommt da eher verklärtes Halbwissen aus den Kindermündern und doch sind sie es, die eines Tages ihrerseits auch dieses Erbe bewahren müssen und sollen, so wie wir auch das Erbe des 2. Weltkrieges und des Nationalsozialismus in Erinnerung und Gedenken an die Opfer bewahren, ohne dass wir jemals wirklich erleben mussten, wie es war. So hat jede Generation ihr Erbe, denn eines steht fest, vergessen werden darf nichts und das Gut der Freiheit und des Friedens ist nicht selbstverständlich!

  • 1964 im Badischen geboren, ein Wessi, dessen einer Opa im Russlandfeldzug war und der zweite ein hohes Tier bei der Hamburger SS, haben mich die Erzählungen des "anderen Deutschland" der "Zone" schon als Kind fasziniert. Der Spruch "Geh doch nach drüben" war ein echter Renner meiner Jugend in den 70ern. Ich hatte Cousinen und Cousins im KBW oder bei der DKP und Onkels in der CSU ... immer ging es um "drüben", und was die alles falsch machten und wir alles richtig.


    Ich habe schon als Jugendlicher beides nicht geglaubt. 1980 und 1981 habe ich Interrail gemacht und wir sind auch nach West-Berlin und von dort aus nach Ost-Berlin, um beide Male die Oma meines Kumpels zu besuchen, mit dem ich unterwegs war. Natürlich war es im Osten anders als im Westen. Natürlich fühlten wir uns fremd. Aber nie, wenn wir mit Menschen redeten, die am Kiosk, im bulgarischen Restaurant am Alexander-Platz Soft-Eis kauften oder im Hinterhof bei Horstis Oma ... fremd fühlte ich mich - und damals kam mir eine Erkenntnis - weil im Westen ein Bild aufgebaut wurde von der "Zone", aber eben nie von den Menschen. Als ich wieder im Westen war, vor allem 1981, bemerkte ich, dass ich mich hier ebenso fremd fühlte. Eine tiefgreifende Erkenntnis beschlich mich, dass wohl in beiden Ländern, in beiden Teilen, den Menschen etwas über den jeweils anderen Teil erzählt wurde, das aber nie die Menschen betraf, die einzelnen Schicksale, Lebensentwürfe. Umd am Ende war da mein Schluss, dass niemand hier oder dort besser oder schlechter ist als sein Gegenüber, sondern dass sie eben hier wie dort versuchten, so gut wie möglich ihr Leben zu leben.


    Als dann 1989 tatsächlich die ersten Löcher in der Mauer entstanden, habe ich vor dem Fernseher geweint wie ein Schlosshund. Dabei habe ich das Entstehen der beiden Staaten ja gar nicht miterlebt, meine Zeit war die RAF, der Doppelbeschluss, Reagan, aber ich erinnerte mich an meine Besuche in der DDR und ich hoffte, dass die Menschen im Westen und im Osten 40 Jahre "gelehrte Fremdheit" schnell überwinden können, um sich nun endlich wieder jeden Tag ein "Guten Morgen, wie geht's?" entgegen bringen können. Doch ich denke, 40 Jahre haben viel verändert. Im Laufe der Jahre fühlte ich mich oft an zwei Kumpels erinnert, dicke Freunde bis zum Schulende, dann 40 Jahre nicht mehr gesehen und noch die alten Bilder im Kopf, aber nun von der Realität eingeholt. Sie haben den Eindruck, den anderen nicht mehr zu kennen und sind enttäuscht.


    Aber sie verkennen, dass sie eine einmalige Chance haben, nämlich sich wieder neu kennenzulernen, und vor allem, dass beide die Erfahrungen, den Lebensentwurf, die Lebensleistung, Gefühle und Gedanken aus diesen 40 Jahren respektieren lernen, schätzen und so etwas entsteht, dass noch viel mehr Bestand haben wird. Keiner von beiden war besser oder schlechter.


    Ich freue mich noch heute, dass es keine Mauer mehr gibt. Und ich bin froh, jedenfalls für ein paar Tage in der DDR gewesen zu sein und mit den Menschen zu dieser Zeit geredet zu haben, ihre Träume und Wünsche gehört zu haben. Und ich bin froh, dass ich ihnen von meinen Träumen und Wünsche erzählt habe.


    Und ich bin stolz, dass die Menschen in der DDR 1989 etwas Weltbewegendes geschafft haben, was wir im Westen vielleicht nicht auf die Beine hätten stellen können.


    Aus diesem Grund sage ich. Danke!


    Shlomo

  • @FraPre, auch ich war genau 18 :thumbsup:
    Der 9.11.89 ist schnell erzählt, Radio, Radio und nochmal Radio (ich war da tief im Westen in Trier),ab so 17:50 (ich weiß nicht aus welchem Winkel meines Hirns ich genau diese Uhrzeit nehme) gings dann Schlag auf Schlag, es war einfach ein unfassbarer Tag .... politische Ansichten hin oder her, wer einmal vor dieser verdammten Mauer gestanden war konnte nicht so einfach fassen dass die auf einmal weg war...
    Heute mit fast 50 gefragt ... joh das sind diese Stunden an die man sich immer erinnern wird und ich habe nicht gerade wenig erlebt in den 50 Lenzen ;-))
    Kurz und gut, ohne auszuschweifen (auch mir ging die Turbowiedervereinigung zu einseitig über die Bühne, auch wenn sie alternativlos und richtig war, ein dickes Lob für die Bürgerbewegung), es ging natürlich ab Februar 90 rüber und das ausführlichst mit Bahn und Rad, ich denke so 50% des Streckennetztes habe ich bereist damals (natürlich ohne Kamera, man trägt die Eindrücke aber tief in sich drin).
    "Wir" ich sag das jetzt mal so waren durchaus begeistert von dieser Eisenbahn drüben, die kompromisslos die Nummer 1 im Transportgeschäft war, auch wenn staatsverordnet.
    Meine ersten beiden Reisen führten mich mit Sonderzügen nach Weimar (von Trier aus), ich brauche nicht zu erwähnen dass das als halbwegs gebildetem Menschen eine große Sache war, auch wenn ja Reisen durchaus möglich waren als Wessi, die ganze Stimmung war einfach unfassbar toll, ich weiß nicht wo ich heute mit dem dicksten Reisebudget auf der Kugel hinfahren würde und das auch nur annähern so intensiv wäre...


    So genug ... Eisenbahn ... mit einem Wort, sprachlos, im Zug alle Leute irgendwie gut drauf, und zwar bereits vom äußersten Westen bis an die Grenze jede große Station irgendwie im Aufruhr, es wuselte, ich hab die Eisenbahn auch selber niemals zu vor und niemals später wieder in so einer positiven Geschäftigkeit erlebt (und die Bahn wurde wahrlich so oft für Kriegszwecke missbraucht), überall waren die Bahnsteige voll, jede Menge Sonderzüge und zusätzliches Wagenmaterial waren unterwegs, mal ein Riesenkompliment an alle Eisenbahner hüben wie drüben die gewaltiges geleistet haben, die ersten Monate nach der Wende waren atemberaubend, unvergesslich!


    Als kleine Reminiszenz ein paar screens gleich hier Meine Teststrecken und Diorama Basteleien aus dem TS (denn da sind wir ja) aus Gerstungen, dass zur DDR Zeit in eine wichtige und stark befestigte GÜST umgewandelt wurde. Hochbetrieb herrschte auf dem langen Transitmittelbahnsteig und den Gütergleisen und die eingleisige Umgehungsstrecke über Förtha unter Umgehung der verschlungenen Werratalgrenze und Hauptbahn, verlangte den Maschinen auf der 20 Promill-Rampe wirklich alles ab.


    Ja unterm Stirch, schade dass es bis jetzt so wenig Interesse an der Umsetzung von Strecken um/kurz vor der Wendezeit im TS gibt. Aber wir Älteren sollten das Andenken waren, die Eisenbahn damals war mir um vieles näher als heute.

  • Ich kann mich erinnern wo ich mit einem Freund in der Kneipe gesessen habe. Das Problem war das mein Kumpel ein Hemd der Bundeswehr getragen hatte. Da waren doch so ein paar frechre Ostbratzen die man vom Dialekt kaum Verstehen konnte uns ein vom Klassenfeind erzählt haben. Da waren sie Im Ruhrgebiet gleich richtig und es gab in üblicher Manier ordentlich was auf die Fresse. :D


    Und ich hab gesagt nimmt doch mal die Wolldecke aus der Schnauze das man was versteht was ihr da brabbelt... :ugly: Da ging es dann los.


    Zum guten Schluss haben wir aber noch alle ein Bier getrunken ...man glaubt es kaum und alles war gut.


    Ansonsten kenne ich die DDR nur aus Erzählungen von Klasenkameraden und die waren nicht wirklich toll. Egal wie ich bin froh darüber das ich jenseits der verkackten Mauer geboren und aufgewachsen bin.


    Erste Berührungen mit DDR Bürgern hatte ich bedingt durch meine EX Frau die da was vorzuweisen hatte. Die Tante musste man einfach nur lieb haben denn so etwas herzensgutes hatte ich noch nicht erlebt.Der Onkel war ein alter eingefleischter Reichsbahner in Rente der schon 1988 erzählte das die ganze Geschichte nicht mehr lange gut geht. Telefonate nach Karl Marx Stadt waren ohnehin immer Abenteuerlich.
    Ging nur mit Anmeldung und mindestens zwei Stunden Wartezeit damit die Stasi auch noch mithören konnte was man mit den Wessis so labert. :) Von den Heulatacken die hier im Supermarkt stattgefunden haben weil Obst und Gemüse in rauhen Mengen ohne das man anstehen musste war teils zu viel für die Ost Besucher.Auch tolle Biersorten konnte und durfte ich probieren die als "Sterbehilfe" deklariert waren. Auch die Zigaretten waren im Vergleich der letzte Dreck gewesen. Ost Kram halt was erwartet man da 8o

  • Hallo,


    jetzt möchte ich gerne auch meine Geschichte vom 9. November 1989 erzählen, denn die Erlebnisse werde ich auch niemals vergessen:


    Dabei ging der Tag so los wie alle Tage damals: Geboren in Hessen bei Wiesbaden besuchte ich an diesem, der Erinnerung nach, leicht nieselig-regnerischen Morgen die 11. Klasse eines Wiesbadener Gymnasiums. Am Morgen stand eine Klausur zum Thema "Gesellschaftskunde" beim beliebten Lehrer "Stracki" (Herrn Strack, den ich vor ein paar Jahren gesund und munter wieder auf einem Klassentreffen sah) an. Ich kann mich sogar noch an das Thema erinnern, denn das sollte im Laufe des Tages von der Aktualität gänzlich über den Haufen geworfen werden. Die Fragestellung war, wie sich die staatliche Entwicklung von DDR und BR Deutschland wohl angesichts der bereits wochenlangen Ereignisse (Übersiedler, Botschaftsflüchtlinge in Prag und Warschau, Demonstrationen und mutige Proteste im Zusammenhang mit dem 40. Jahrestag) in den nächsten Jahren entwickeln würde. Ich war insoweit etwas vorsichtig, als dass ich eine zwar wesentlich stärkere staatliche Öffnung der beiden deutschen Staaten als bisher geschehen in meiner Antwort andeutete, aber natürlich konnten wir alle nicht vorhersagen, wie sich die Ereignisse bis zum 3. Oktober 1990 entwickeln würden. Insoweit hatte das im Nachhinein betrachtet, natürlich auch keine Auswirkungen auf die Benotung, denn "Hellseherei" gehört bekanntlich nicht zum gymnasialen Bildungskanon, der regelmäßig in der Oberstufe vermittelt wird.


    Zum Hintergrund: Ich bin zwar in Hessen geboren, aber aufgrund meiner Eltern, "kein waschechter Hesse". Meine Mutter stammt aus Königsberg/Ostpreußen und musste als Vierjährige vor der heranrückenden Roten Armee fliehen. Mein Vater stammt aus Frankfurt an der Oder und erlebte das Kriegsende im britschen Sektor von Berlin. Die Eltern hatten beide Beziehungen zum anderen Teil Deutschlands (Verwandtschaft der Mutter und deren Aufenthalt in einem Flüchtlingslager bei Priestewitz/Dresden 1945 und im Fall meines Vaters familiäre Bindungen nach Riesa und Hartha/Thüringen). Insoweit ist mein Geburtsort in der Tat vollkommen zufällig, denn er hätte genausogut auch im Osten sein können. Mein Vater lebte zwischen 1945 und 1949 kurze Zeit in Riesa bei Verwandten, bis er 1949 endgültig nach West-Berlin kam. 1953 erlebte er an der Sektorengrenze am Potsdamer Platz den Volksaufstand des 17. Juni mutiger Ostdeutscher gegen das SED-Regime aus Westen live mit. Meine Mutter kam mit ihren Angehörigen von Sachsen recht schnell nach Mainfranken, denn ihr Vater, ein Luftwaffenoffizier, wurde nach Würzburg aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Von Karlstadt/Würzburg aus folgten Umzüge ins Rheinland (Mönchengladbach) und an den Bodensee (Lindau) in den 1950er Jahren, nach dem Abitur studierte sie Pädagogik in Worms und lernte meinen Vater schließlich 1960 in Sizilien (!) beim gemeinsamen Urlaub kennen, als sie ihre erste Stelle als Lehrerin im rheinlandpfälzischen Nieder-Olm antrat. Mein Vater beendete die Schule in West-Berlin und kam dann (mit dem Mofa, wie er erzählte!) über die 1959 offenbar noch sehr leere Transitautobahn nach Hessen, um sich dort bei der Polizei zu bewerben. Er beendete 1997 als Brandursachenexperte beim Hessischen Landeskriminalamt seinen Polizeidienst.


    Nun also weiter zum bewussten Tag: Die Klausur war geschrieben, der übrige Vormittag vergangen, nach der Busfahrt in einen Wiesbadener Vorort standen nach dem Mittagessen die Hausaufgaben an. Also eigentlich alles wie immer, oder? Nun, ja - nicht ganz: Etwa so ab 17:50 Uhr rief Lütti, ein langjähriger Schulkumpel meines Vaters aus Berlin an. Er arbeitete damals beim Berliner Studio des ZDF als Leiter der MAZ, also der Magnetaufzeichnung einer jeden Sendung. Übrigens wurde er regelmäßig im Abspann der Hitparade von Viktor Worms immer namentlich aufgeführt. Ansonsten wirkte er in der sog. freiwilligen Polizeireserve in West-Berlin mit. Das war eine Institution des Berliner Senats, eingerichtet im Ergebnis der Berlin-Blockade 1948 - 1949, um im Westteil der geteilten Stadt Ordnung und Sicherheit zu jeder Zeit aufrechterhalten zu können. Lütti sagte am Telefon: "Also irgendwas ist los hier, wir wissen auch nichts, macht aber mal das Fernsehen an, denn wir haben einen Einsatzbefehl zur Absicherung der Westseite des Grenzübergangs Sonnenallee erhalten". Diesen Rat sind wir gefolgt und haben die Pressekonferenz mit Schabowski gesehen. Wir waren wie vor den Kopf geschlagen. Ich kann mich erinnern, dass der Fernseher mindestens bis Mitternacht lief und ich am nächsten Morgen, wie alle Klassenkameraden, recht unausgeschlafen war.
    Wir waren dann Anfang Januar 1990 in Eisenach zu Besuch. Es war toll.


    Übrigens hatte ich im März 1989 selbst erleben können, wie sich in Berlin die Situation gestaltete, denn meine Eltern besuchten Angehörige und wir fuhren damals im BEX-Reisebus zu einem Tagesausflug über Drewitz zum Schloss Sanssoucci nach Postdam. Ich erinnere mich noch an Passkontrolleure mit krachenden Stempeln und bauchladenartigen Aktenkoffern, Hundeführer und Kontrolleure mit Spiegeln, die den Bus von unten überprüften sowie Jugendliche auf dem Busparkplatz, die "schwarz" Geld tauschen wollten. Eine eifrige Stadtbilderklärerin führte uns dann nach Potsdam in ein sehr schönes HO-Restaurant. Dort erhielten wir zwar ein gutes Essen, aber es war sehr bedrückend zu sehen, dass an den großen Glaseingangstüren, welche verschlossen waren, die DDR-Bürger mit ihren Stoffeinkaufsbeuteln standen und hineinwollten. Es war einfach extrem unwürdig. Dann ist mir noch der widerliche "Tränenpalast" in Erinnerung mit den gelben Kacheln nach der Art (und wahrscheinlich auch dem Geruch) einer öffentlichen Bedürfnisanstalt. Ich weiß auch noch, dass wir den Fernsehturm am Alexanderplatz besuchten und mit der rot-weiß lackierten S-Bahn fuhren. An Schaufenstereinrichtungen mit wenig Waren, aber dafür viel mehr Fahnen und Transparenten in Vorbereitung des 40. Jahrestages habe ich auch noch Erinnerungen.


    Noch etwas zur Schule: Wir hatten einen sehr guten Deutsch-Tutor, der auch eine gesamtdeutsche Geschichte zu erzählen hatte: 1945 als junger Mann nach kurzzeitigem Wehrdienst sollte er im Herbst als einer der ersten Neulehrer in der damaligen SBZ (sowjetisch besetzte Zone Deutschlands; Vorläuferbezeichnung der späteren DDR) an einem Kurs teilnehmen, um dann ab 1946 in einer Leipziger Schule die Politik der SED den dortigen jungen Menschen nahezubringen. Zunehmend geriet er jedoch in Widerspruch zu diesem Bildungsziel und schloss sich einer Gruppe revoltierender Oberschüler an. Das bekam ihm gar nicht gut, denn er "fuhr dafür ein" und kam bis 1954 nach Bautzen ins dortige Gefängnis. Dort erlebte er alles mit (sog. "Bautzener Hungergeschrei" der Häftlinge 1950 u. a.). Nach seiner Entlassung floh er spektakulär mit Lederbändern unter einem Interzonenzug (!) angebunden in den Westen. Dort allerdings holte ihn diese Vergangenheitshypothek ständig wieder ein. Er musste erneut ein vollständiges Pädagogikstudium absolvieren, promovierte sogar, konnte aber, anders als seine westlichen Kollegen, niemals verbeamtet werden, weil man ihm seine ostdeutsche Neulehrerausbildung im Westen nicht anerkannte. Insoweit konnten wir ihn während der ereignisreichen Herbstmonate des Jahres 1989 zu Beginn bald jeder seiner Unterrichtsstunden in Form einer Art "Deutschlandschau" mit ganz persönlichen Kommentaren erleben: Bis zum 9. November war er extrem kritisch gewesen, denn er sprach von "rotem Gesindel und Gelumbe", wir besprachen bei ihm den 17. Juni 1953 (anhand einer Schallplatte mit Originalaufnahmen der damaligen Ereignisse) usw. Nach diesem Datum änderte sich seine Haltung, denn er war der Ansicht, dass das "in der Zone" (nie sagte er DDR) auf keinen Fall so weiterginge und es zur deutschen Einheit kommen werde. Seine Marotte war übrigens der Pluralis majestatix, d. h. die dritte Person, mit welcher er uns anredete, z. B. "Schulzen, zwinge Er mir kein Gespräch auf!" (gerichtet an einen Mitschüler namens Schulz).


    Ich selbst lebe seit 1995 im östlichen Sachsen. Dort hat es mich beruflich nach meinem Studium der Verwaltungswissenschaften hin verschlagen. Schon immer habe ich gesagt, sicherlich aufgrund unserer familiären Bindungen, dass ich gerne helfen möchte, damit Deutschland wieder eins wird und die Entwicklung des östlichen Landesteils mit eigenen Kräften unterstützend voranbringen will. Diesen Willen konnte ich bis heute umsetzen. Ich lebe gerne hier und ich muss sagen, dass ich die Entwicklung und den Aufbau vieler Dinge nicht nur miterleben, sondern auch aktiv mitgestalten durfte, so wie es im Westen weder nötig noch möglich gewesen wäre. In diesem Zusammenhang habe ich einen Wahlspruch: "Charakter ist keine Frage der Himmelsrichtung oder des Geburtsortes".


    Ich bin Erasmus-Hochschulkoordinator an einer sächsischen Hochschule bei Görlitz. Diese Hochschule wurde 2019 als eine von zwei ostdeutschen Hochschulen bundesweit aus 382 Hochschulen, gemeinsam mit acht weiteren Hochschulbildungseinrichtungen, meist aus dem Süden Deutschlands, für ihre hervorragende Internationalisierung vom Deutschen Akademischen Austauschdienst als nationale deutsche Erasmus-Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit geehrt. Ich erlebe täglich bei meiner Arbeit, wie wichtig es ist, jungen Menschen Horizonte zu eröffnen. Im aktuellen Fall sind diese europa- und weltweit ausgerichtet. In meiner eigenen Geschichte öffnete sich am 9. November 2019 für mich der Horizont nach Osten in weiter, damals nie für mich vorstellbarer Art und Weise. Das vergesse ich nicht, denn ohne den 9. November 1989 wäre ich nicht nach Sachsen gekommen.

    Boah glaubse, ich geh kaputt ... :lolx2:

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  • Ich fange mit meiner Geschichte ein halbes Jahr vor dem Mauerfall an. Ich war 22 Jahr jung. Meine damalige Frau hatte Verwandschaft in der ehemaligen DDR bei Bernburg. Wir wurden zur Jugendweihe eingeladen. Damals mussten Visa beantragt werden um in den Sozialistischen Staat einreisen zu dürfen. Gesagt getan.
    Am 15.04.1989 war es dann soweit. Wir machten uns auf dem Weg nach Bernburg. Ich fuhr damals einen Opel Kadett D in braunmetallic mit goldenen Streifen. Das war das Sondermodell Corsa.


    Es war meine erste Reise in die damalige DDR. An der Grenze in Helmstedt angekommen, wurde man von allen Seiten, Türmen usw. beobachtet. Es gab Transitspuren für Leute die nach West Berlin wollten. Diese wurden schneller abgefertigt als jene, die direkt in die DDR wollten. Ich weis heute nicht mehr wie groß die Grenzanlage in Helmstedt war, sie war sehr groß. Da meinte man endlich fertig zu sein, nein! Dann ging die Grenze erst richtig los. Aussteigen, Anmelden (Personenzahl nennen), 25 DM Eintrittsgeld pro Person bezahlt, Wagenkontrolle, Passkontrolle (ich glaube das waren insgesamt drei). Der Pass wurde einem ja eh weggenommen. Dieser lief über Förderbänder von einer zur nächsten Station. Am Ende bekam man ihn wieder.


    Über die herablassende Art an der Grenze möchte ich nich hier nicht äußern. Nach der Grenzkontrolle, die 1,5 Stunden gedauert hat, fuhren wir nun endlich in die DDR. Uff, war ich in einer Zeitmaschiene??? Ich kam mich um 50 Jahre zurückversetzt vor. Einschusslöcher aus dem zweiten Weltkrieg in den Häuserfronten, alles grau in grau. Der süßliche Geruch des Zweitakters lag permanent in der Luft. Das war schon harter Tobak. In Bernburg angekommen, mussten wir zur örtlichen Polizeistation, um uns an.- und abzumelden. Dort fragte mich der Polizist, wo ich denn die Grenze überschritten habe? Ich sagte, Helmstedt! Kenn ich nicht, antwortete der Polizist. Wo sind sie über die Grenze gefahren? Der Ton wurde lauter....! Ich sagte HELMSTEDT!!! Die Antwort des Polizisten habe ich mir bis heute gemerkt: Helmstedt gibt es nicht! Bei uns heißt das Marienborn! Ich antwortete etwas angesäuert: Bei uns heißt es Helmstedt. Er stempelte den Reisepass ab und ich ging meines Weges.


    Es wurden schöne 3 Tage. Nette Menschen kennegelernt und viel gefeiert. Nur während der Vereidigung der Jugendweihe mussten wir Westdeutsche dann den Raum verlassen. Damit man diesen Unsinn nicht mitbekommt. Der Lautsprecher war jedoch so laut, dass man es auch draußen verstand. Der Kasten Bier bestand aus braunen und grünen Flaschen, je nachdem welche gerade da waren. War schon witzig...! Unser Gastvater wollte unbedingt mal eine Runde mit meinem Kadett fahren zum Bier holen. Ich sagte klar, wenn ich mal Trabi fahren darf. Gesagt getan. Der Trabi war besser bei den Straßenverhältnissen dort. Er flog über die Schlaglöcher...!


    Nach drei schönen Tagen fuhren wir wieder nach Hause. Ich sagte zu meiner damaligen Frau schon. So nett wie die Leute sind, dieses System kann sich so lange nicht mehr halten. Da war schon einiges im Argen.


    Sechs Monate später im Fernsehen dann den Mauerfall mitbekommen. Ich hatte zum Glück Urlaub und bin nicht vom Fernseher weggekommen. Ich hatte Tränen in den Augen.


    Wenn man es nicht selber mitbekommen hat, weis man nicht wovon man redet.


    Ich habe meinen Teil des Reisepasses bis heute behalten! Ich hoffe, dieser Wahnsinn kommt nie wieder!